Dr. med. Andreas Wöge
Stand: Juli 2002 
Dr. med. Andreas Wöge     

 
Leistungen:

Anamnese (Krankenvorgeschichte)
Untersuchungen
Tests
Verhaltensbeobachtungen
Information und Beratung
Differentialdiagnostische Abgrenzung anderer Erkrankungen bzw. Störungen
Ausschluß von sogenannten Komorbiditäten
Medikamentöse Therapie
Coaching

Kurzinformation über das ADS:

Betroffene Kinder, Jugendliche und Erwachsene fallen durch eine vielfälltige Symptomatik auf, v.a. durch Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, leichte Ablenkbarkeit, Zappeligkeit, Tagträumerei, Vergesslichkeit, Impulsivität (Wutausbrüche) usw..

Neben der Verhaltensbeobachtung, der Symptomatik (Beschwerdebild), der Untersuchung des Patienten und der Testergebnisse stellt die Anamnese einen sehr wichtigen Schwerpunkt bei der Diagnostik dar.

Wichtiger Pfeiler einer erfolgreichen Therapie ist die Patienteninformation und Beratung. Die Grundlage und Basis einer begleitenden Psychotherapie ist in der Regel eine individuell angepaßte, medikamentöse Behandlung der Betroffenen.

 

Das Aufmerksamkeitsdefizit(Hyperaktivitäts)-Syndrom

Auch für Erwachsene gibt es erfolgreiche Behandlungsmöglichkeiten

Unaufmerksame, unkonzentrierte und überaktive Kinder können die geduldigsten Eltern und Lehrer zur Verzweiflung bringen. Das Unverständnis in der Gesellschaft und mangelhafte Kenntnisse über das Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) behindern mögliche Hilfen der Betroffenen. In der Geschichte vom Zappelphilipp wurde dieses Syndrom bereits 1845 von dem Frankfurter Nervenarzt und Schriftsteller Dr. Heinrich Hoffmann (1809 - 1894) beschrieben. Er dürfte selbst Betroffener gewesen sein, denn aus seinem Lebenslauf ergeben sich Hinweise darauf.

Struwwelpeter

Aquarellierte Federzeichnung von Dr. Heinrich Hoffmann -
"der Struwwelpeter" 1844 im Original (5)
 

Unter dem Pseudonym Reimerich Kinderlieb* zeichnete er seine "lustigen Geschichten und drolligen Bilder mit 15 schön kolorierten Tafeln für Kinder von 3 bis 6 Jahren", die besser bekannt als "Struwwelpeter" zum Klassiker der Kinderliteratur geworden sind, zahlreiche Auflagen erreichten und in fast allen Sprachen der Welt übersetzt wurden. Ursprünglich waren diese Geschichten jedoch nicht zur Veröffentlichung bestimmt, sondern für seinen Sohn Carl Philipp 1844 als Weihnachtsgeschenk gedacht (22).

* Erst ab der fünften Auflage gibt er sich mit dem eigenen Namen als Verfasser zu erkennen

 

Ob der Philipp heute still wohl bei Tische sitzen will?

"Ob der Philipp heute still
wohl bei Tische sitzen will?"
Also sprach in ernstem Ton
der Papa zu seinem Sohn,
und die Mutter blickte stumm
auf dem ganzen Tisch herum.
Doch der Philipp hörte nicht,
was zu ihm der Vater spricht.
Er gaukelt
und schaukelt,
er trappelt
und zappelt
auf dem Stuhle hin und her,
"Philipp, das mißfällt mir sehr!"
 

Nach dem Tischtuch greift er, schreit. Doch was hilft's?

Seht, ihr lieben Kinder, seht,
wie's dem Philipp weiter geht!
Schaut genau auf dieses Bild!
Seht! Er schaukelt gar zu wild,
bis der Stuhl nach hinten fällt,
da ist nichts mehr, was ihn hält.
 
Nach dem Tischtuch greift er, schreit.
Doch was hilft's? Zu gleicher Zeit
fallen Teller, Flasch' und Brot.
Vater ist in großer Not,
und die Mutter blicket stumm
auf dem ganzen Tisch herum.
 

Nun ist der Philipp ganz versteckt und der Tisch ist abgedeckt ...
Original-Zeichnungen
von Dr. Heinrich Hoffmann
Die Geschichte vom Zappelphilipp. (6)
Von wem könnte Philipp das
Syndrom geerbt haben?

Nun ist Philipp ganz versteckt,
und der Tisch ist abgedeckt,
was der Vater essen wollt'
unten auf der Erde rollt:
Suppe, Brot und alle Bissen,
alles ist herabgerissen;
Suppenschüssel ist entzwei,
und die Eltern stehn dabei.
Beide sind gar zornig sehr,
haben nichts zu essen mehr.
 

 

Im Jahre 1902 beschrieb der englische Kinderarzt George F. Still in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift "The Lancet" Kinder mit motorischer Unruhe, einer Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit und aggressiven Ausbrüchen. Er führte aus: Nicht eine schlechte Erziehung oder ungünstige Umweltbedingungen seien in erster Linie für dieses Störungsbild verantwortlich, sondern eine angeborene Konstitution (15). - Vielleicht die erste Beschreibung des ADHS in der medizinischen Fachliteratur.

Kinder mit dem Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitäts-Syndrom werden nicht selten als ungezogen, frech und böse angesehen, weil ihre Problematik nicht richtig erkannt wird. Die Eltern zweifeln sehr stark an ihren erzieherischen Fähigkeiten, aber auch Helfer sind enttäuscht, weil trotz pädagogischer Bemühungen das Verhalten dieser Kinder nicht ausreichend zu beeinflussen ist. "Ach, was muß man oft von bösen Kindern hören oder lesen! ..." heißt es zu Beginn der 1865 von Wilhelm Busch veröffentlichten Bubengeschichte, in der "Max und Moritz" durch besonders gewagte und phantasievolle Streiche auffallen. Parallelen zu diesem Syndrom finden sich auch dort (4).

Obligat für das ADHS ist neben der Impulsivität auch die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung (besser -unbeständigkeit). Es geht mit einer Hyperaktivität einher, die recht auffallend ist und von der Umwelt meist als besonders störend empfunden wird. Daher wird es auch hyperkinetisches Syndrom (HKS) oder Zappelphilipp-Syndrom genannt. Diese "Zappelphilipp-Kinder" sind fast ununterbrochen in Bewegung, aufgedreht, zappeln häufig mit Händen und Füßen, das stille Sitzen fällt ihnen besonders schwer. Die Hyperaktivität muß jedoch nicht immer so deutlich ausgeprägt sein, sie kann sogar fehlen. Bei einer selteneren Form sind die Betroffenen, überwiegend weibliche Patienten, hypoaktiv - sogenannte "Tagträumerinnen". Möglicherweise diente die Mutter in der Geschichte vom Zappelphilipp als Beispiel für diese Variante.

Das ADHS wird auch das Syndrom der Extreme genannt. Sehr viele Eigenschaften der Patienten treten entweder in der einen oder anderen extremen Art und Weise auf (z.B. geizig oder spendabel, ordentlich oder unordentlich bis chaotisch ["Messie"], pünklich oder unpünklich, sich nicht entscheiden können oder ganz spontan "aus dem Bauch heraus" eine Entscheidung fällen, usw.).

Stets abzugrenzen ist das ADHS (engl. ADHD - Attention Deficit Hyperactivity Disorder) von Aufmerksamkeitsstörungen anderer Genese wie z.B. reaktiv nach sozialen Konfliktsituationen. Auch die Tatsache, daß ein hyperaktives Verhalten als normale Reifungsphase bei temperamentvollen Kindern auftritt, kann differentialdiagnostische Schwierigkeiten bereiten.

ADHS-Kinder bewegen sich ungeschickt, von den Müttern oft als "irgendwie anders" beschrieben. Sie neigen zu Wutausbrüchen ("flippen leicht aus") und haben Probleme mit Planungsaufgaben. Daher ist ihr Handeln überstürzt, sehr impulsiv und ohne Maß und Überlegung, mit einer größeren Liebe zum Nervenkitzel, nach dem Motto: "Erst handeln und dann denken".

 
Michel kriecht vom Tischlerschuppen zur Voratskammer
 

Astrid Lindgrens "Michel aus Lönneberga" kriecht vom Tischlerschuppen
zur Vorratskammer: "... und als er die Nesseln unter sich sah, bekam er Angst und schwankte" (9)
 

Eine beispielhafte Episode findet sich auch in dem Kinderbuch "Als Klein-Ida auch mal Unfug machen wollte", ebenfalls von der schwedischen Erfolgs-Autorin Astrid Lindgren. Darin schreibt sie, daß "auch Klein-Ida es in dem Tischlerschuppen sehr gemütlich fand, in dem ihr Bruder Michel immer eingesperrt wurde, wenn er etwas ausgefressen hatte. ... Ida wollte da auch gern einmal eingesperrt werden. Aber dann hätte sie ja zuerst irgend etwas ausfressen müssen, und das konnte sie nicht, das liebe Ding!" "Aber ich werd' mir schon was ausdenken", sagte sie zu Michel. "Unfug denkt man sich nicht aus", erwiderte er, "Unfug wird's von ganz allein. Aber daß es Unfug war, weiß man erst hinterher" (8).

Der Schlaf ist oft unruhiger als bei Gesunden, dazu kommen oft Ein- und Durchschlafstörungen. Kennzeichnend für ADHS-Kinder ist u.a. auch ihr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, die Hilfsbereitschaft und ihre Vergeßlichkeit, aber mit einem Elefantengedächtnis für Details. Meist wirken sie jünger als ihrem Alter entsprechend. Anders als in der Gruppe können diese Kinder in der Einzelsituation mit direktem Kontakt (1-zu-1-Konstellation) zur Ruhe kommen, "sehr lieb" sein und dann auch strukturiert arbeiten. In ihrer Laune sind ADHS-Kinder sehr wechselhaft, weinen leicht und häufig. Sie werden schnell ärgerlich, wenn die Menschen sich nicht so verhalten, wie erwartet wurde. Diese nicht ausreichende Selbstkontrolle führt dazu, daß diese Kinder als ungehorsam oder nachlässig erscheinen. Durch die dann notwendige (vermehrte) Zuwendung und Aufmerksamkeit der Eltern bahnt sich eine Geschwisterrivalität geradezu an.

Kinder mit einem ADHS haben einen oberflächlich abtastenden, überhüpfenden Wahrnehmungsstil: So wurde beispielsweise der Ortsname "Obertürkheim" an der Fahrtrichtungsanzeige im Bus einfach als "Obertürkei" gelesen. Aufgrund ihrer verzerrten Wahrnehmung können sie meist Wesentliches von Unwesentlichem nicht unterscheiden. Weil sie sich nicht lange konzentrieren können und sich durch jede Kleinigkeit ablenken lassen, können sie nur schlecht bei einer Spielaktivität bleiben. Außerdem sind sie schnell frustriert und geben dann leicht auf, aber auch stundenlanges Beschäftigen mit einer Sache ist möglich.

Angefangene Dinge werden häufig nicht beendet, was bei vielen Betroffenen obendrein zu Lernproblemen in der Schule führt. Im schulischen Alltag fallen sie besonders auf: Sie scheinen nicht zuzuhören, beantworten oft eine Frage, bevor sie richtig gestellt wurde, machen Bemerkungen, ohne an der Reihe zu sein, stören andere Kinder. Ihr Schriftbild ist unruhig, die Richtungskonstanz fehlt und die Zeilen werden nicht eingehalten. Die schulischen Leistungen verschlechtern sich stetig, obwohl die Kinder normal begabt und nicht selten sogar überdurchschnittlich intelligent sind. Die Leistungen entsprechen also nicht der Intelligenz! Durch die zusätzlich oft vorhandenen Teilleistungsstörungen, wie die Lese- und Rechtschreibschwäche (Legasthenie) oder die Rechenschwäche (Dyskalkulie), werden die Kinder gänzlich überfordert - die Schule wird mehr und mehr zur Qual. Sie sind deshalb furchtbar in Not und suchen beispielsweise durch Lügen einen Ausweg. Sie fühlen sich von der Umwelt ungeliebt, werden depressiv, sogar Suizidgedanken werden geäußert. Die unvermeidlichen, ständigen Mißerfolge beim Lernen erzeugen schließlich sogenannte Pfropfneurosen, sekundäre Verhaltensstörungen, die zusätzlich die Kinderpersönlichkeit deformieren. Viele ADHS-Kinder versuchen, ihre schlechten Leistungen durch Kaspereien und Aggressionen zu kompensieren. Als Klassenclown holen sie sich die dringend benötigte Anerkennung und das seltene Erfolgserlebnis. Aufgrund der sozialen Schwierigkeiten finden wir oft neben einer schwierigen Schullaufbahn und schlechteren Schulabschlüssen auch vermehrt Konflikte mit dem Gesetz sowie häufigeren Alkohol- und Drogenkonsum. Man sollte sich daher öfter mit den Kindern intensiver beschäftigen, sie umsorgen, und ihnen die Aufmerksamkeit schenken, die ihnen fehlt (Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom!), statt sie immer wieder zu tadeln und zu entmutigen.

Einige Mütter berichten über eine Hyperaktivität ihrer Kinder bereits in der Schwangerschaft. Die Kindsbewegungen werden als besonders heftig und intensiv beschrieben. Bei ca. 60% der betroffenen Kinder zeigt sich eine extremere Unruhe bereits im Säuglingsalter. Sie haben Schlafstörungen, häufiger Koliken, sind durch äußere Reize leicht irritierbar und scheinen Liebkosungen nicht so gerne zu haben. Im Vorschulalter zeigt sich die Hyperaktivität dann schon recht ausgeprägt. Als "lebhaftes" Kind sind sie stark unfallgefährdet, zudem scheinen sie keine Gefahr zu erkennen und nicht aus negativen Erfahrungen zu lernen.

Die äußerlich hyperaktiven Kinder wirken mit zunehmenden Alter ruhiger, jedoch sind sie als Jugendliche und Erwachsene immer noch innerlich angespannt und fühlen sich "wie getrieben". Viele haben auch im Erwachsenenalter noch Konzentrationsprobleme, leiden an erhöhter Impulsivität und können nur schwer "abschalten", was dann nicht selten als Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wird. Man schätzt, daß mindestens ein Drittel behandlungsbedürftige Symptome zeigt (3).

Über 150 Jahre nach dem "Struwwelpeter" kennt man die Ursache für dieses Syndrom, von dem über 4% der Schulkinder betroffen sind, immer noch nicht genau. Der Begriff "Minimale Cerebrale Dysfunktion", der lange Zeit als Synonym für das ADHS gebraucht wurde, weist darauf hin, daß hirnorganische Funktionsstörungen angenommen werden. Aufgrund neuropharmakologischer Befunde wird eine Dysregulation noradrenerger, dopaminerger und serotoninerger Neurotransmittersysteme unterschiedlichen Umfangs vermutet, was die Existenz verschiedener Formen dieser Störung erklären kann. Im Bereich der Nervenschaltstellen (Synapsen) wird der Neurotransmitter Dopamin zu wenig gebildet bzw. zu stark durch das abbauende Enzym Monoaminooxydase (MAO) inaktiviert (2). Diese Theorie wird dadurch erhärtet, daß stimulierend wirkende Medikamente, wie beispielsweise das Amphetamin, die Erscheinungen des ADHS beheben können. Daß ADHS-Kinder im Verlauf der Geburt einen minimalen Hirnschaden erlitten haben, gilt inzwischen als sehr unwahrscheinlich. Zweifelsfrei spielen genetische Faktoren eine große Rolle. Unter den Eltern dieser Kinder läßt sich nach eigener Beobachtung fast stets ein ADS mit oder ohne Hyperaktivität finden. Folgender Merksatz ist sehr treffend (11):

"ADS trifft ADS - und produziert ADS."

Auch die Ergebnisse der Zwillingsforschung weisen auf erbliche Zusammenhänge hin. Der bislang noch nicht genau lokalisierte Gendefekt erzeugt vermutlich ein Ungleichgewicht unter den neuronalen Botenstoffen und führt auf diese Weise zu einer Störung der Reizverarbeitung im Gehirn. Es scheint sich um eine autosomal dominant vererbte Störung zu handeln (1). Mädchen und Jungen sind dann gleich häufig betroffen. Da man aber Jungen etwa 3-4 mal häufiger als Mädchen (Zappelphilipp, selten Zappelliese!) unter dem Hyperaktivitätssyndrom findet, nimmt man an, daß Jungen, die ohnehin lebhafter und aggressiver sind, eher auffallen, wenn sich ihre Lebhaftigkeit und Aggressivität mit dem ADHS summiert.

Keinen Zusammenhang ergaben die bisher durchgeführten Untersuchungen zwischen salizylat-, zucker- und phosphatreichen Nahrungsmitteln und dem ADHS, obwohl in verschiedenen Studien einzelne hyperaktive Kinder auf eine entsprechende Diät zumindest partiell mit einer Verhaltensbesserung reagierten (12, 17). Bei diesen Kindern ist die Hyperaktivität möglicherweise durch Allergien auf bestimmte Nahrungsmittel bedingt oder verstärkt, wobei auch synthetische Farb-, Aroma- und Konservierungsstoffe als Ursache infrage kommen. Eine erhöhte Allergiebereitschaft scheint bei ADHS-Kindern vorzuliegen.

Die Behandlung des ADHS fußt auf drei Säulen, von denen die Erste die Beratung der Eltern und Lehrer darstellt. Das Wissen um diese Störung, und daß es sich um eine solche handelt, kann den Eltern die meist sehr ausgeprägten Schuldgefühle nehmen und die oft stark belastete familiäre Situation entspannen helfen. Auch muß der These entgegengetreten werden, wonach das elterliche Verhalten die Hyperaktivität verursacht, so daß die gegenseitigen Vorwürfe und Schuldzuweisungen wegen angeblich falscher Erziehung enden können. Empfehlenswert ist darüber hinaus der Erfahrungsaustausch in einer Selbsthilfegruppe oder Elterninitiative, die schon mit dem Gefühl, nicht allein mit seinen Problemen zu sein, hilfreiche Unterstützung geben kann. Das Internet bietet nützliche Informationen und zunehmend Erfahrungsberichte betroffener Erwachsener.

Als zweite Säule ist die Ergotherapie zu nennen, bei der die Patienten schöpferisch tätig sein können und sich die dringend notwendigen Glücks- und Erfolgserlebnisse holen. In vielen Fällen ist zusätzlich eine Psychotherapie notwendig, insbesondere die Verhaltenstherapie. Auch sind die Teilleistungsstörungen der Kinder (s.o.) in die Behandlung mit einzubeziehen. Da die HKS-Kinder sich infolge ihrer Impulsivität und Aufmerksamkeitsstörung schlecht an Regeln halten können, ist ein gleichförmiger, sich wiederholender Tagesablauf sehr wichtig. Altersgemäße, lebenspraktische Rituale wie Zähneputzen, Anziehen usw. sollen ebenso systematisch geübt werden, wie das Einhalten von Regeln im Zusammenleben (Rücksichtnahme, Zurückstellen eigener Bedürfnisse etc.).

Die dritte Säule ist die medikamentöse Behandlung, ohne die beispielsweise eine Verhaltenstherapie wenig effektiv ist - oft wird sie überhaupt erst dadurch ermöglicht. Etwa 80% der Behandelten bessern sich unter einer Arzneitherapie zum Teil in erstaunlich beeindruckender Weise. Die Mittel der ersten Wahl sind die sogenannten Psychostimulantien - Präparate, die von Erwachsenen als "Wachmacher" und Aufputschmittel mißbraucht werden. In Deutschland wird nahezu ausschließlich das Methylphenidat eingesetzt, Handelsname Ritalin® (seit 15.5.2000 auch Medikinet®). Diese Substanz hat eine amphetamin-ähnliche Wirkung und erhöht die zentralnervösen Transmitterkonzentrationen von Noradrenalin und Dopamin im synaptischen Spalt. Das Medikament "stellt" die Kinder sozusagen "ein", damit die begleitenden Therapien (s. zweite Säule) fruchten können. Bei HKS-Kindern wirken Stimulantien nicht stimmungsanhebend oder gar euphorisierend, sondern sie gleichen aus, machen wacher und - scheinbar paradox - beruhigen. Diese Kinder sind quasi übermüdeten Kindern vergleichbar, die mit körperlicher Bewegung versuchen, munterer und wacher zu werden. Das Medikament übernimmt dies für sie. Obendrein wird dem Gehirn geholfen, die Umweltimpulse besser zu verarbeiten. Die Hyperaktivität verschwindet und die Aufmerksamkeit verbessert sich deutlich. Die Konzentrationsfähigkeit steigt, das Kind entwickelt mehr Ausdauer und ist nicht mehr so leicht abzulenken. Besonders eindrucksvoll ist nicht selten die Verbesserung der Handschrift.

Unbehandelte ADHS-Kinder geraten sehr häufig ins soziale Abseits und gelten in schweren Fällen als nicht beschulbar. Das Ritalin®/Medikinet® verbessert nicht die kognitive Leistungsfähigkeit, es ist also keine "Schlaumacherpille", aber es versetzt die Kinder in die Lage, über ihre individuelle Begabung besser zu verfügen. In der Familie bessern sich die sozialen Beziehungen, speziell zwischen Mutter und Kind. Die Probleme des Kindes verringern sich, sein Selbstwertgefühl steigt.

Das Methylphenidat sollte zu Beginn der Behandlung einschleichend gegeben werden. Die optimale Dosis ist dann je nach Symptomatik individuell zu ermitteln (12). Über die Höhe der Dosierung und das Einlegen von Medikamentenpausen (z.B. an Wochenenden und in den Schulferien) gibt es jedoch noch kontroverse Meinungen. Da das Methylphenidat eine recht kurze Halbwertszeit von etwa 2-4 Stunden besitzt, sind in der Regel mehrere Tagesdosen nötig.

Die häufigsten Nebenwirkungen vom Methylphenidat sind Appetitminderung und Einschlafstörungen. Befürchtungen, daß Stimulantien das Knochenwachstum irreversibel hemmen, haben sich in neuen Untersuchungen nicht bestätigt. Zwar kann es anfänglich unter der Behandlung zu einer gewissen Wachstumsverzögerung kommen, doch wird sie im weiteren Verlauf kompensiert (12). Eine Suchtgefahr oder Abhängigkeit besteht selbst nach mehrjähriger Behandlung nicht. Nach mehr als 60jähriger Erfahrung mit der Stimulantientherapie ist kein einziger Fall von Medikamentensucht bei HKS-Patienten bekannt geworden (2, 17, 20). Oft wird von ihnen die Einnahme der Tabletten gar vergessen! Bemerkenswert ist, daß die Kinder zu Beginn der Therapie das Methylphenidat in z.T. recht hoher Dosierung vertragen, jedoch nach Monaten oder Jahren sogar kleinste Mengen davon nicht mehr (14).

Alternativ zum Methylphenidat kommt beispielsweise das Amphetamin infrage. Trizyklische Antidepressiva, MAO-Hemmer oder seltener Neuroleptika sind Medikamente der zweiten Wahl.

Die medikamentöse Therapie, insbesondere die Verabreichung von Psychostimulantien, ist mit Vorurteilen behaftet und wird mitunter vehement angegriffen. Ihr Einsatz fällt unter das Betäubungsmittelgesetz, ist daher etwas aufwendig und ruft nicht selten das unüberwindbare Mißtrauen der Eltern hervor. Man geht dann davon aus, daß dieses Krankheitsbild rein gesellschaftlich oder seelisch bedingt sei und deshalb auch nur psychotherapeutisch behandelt werden könne. Ein weiteres Vorurteil unterstellt den Medikamenten, sie sollten die Kinder disziplinieren und die Auseinandersetzung mit der Umwelt unterdrücken. Die medikamentöse Behandlung eröffnet jedoch einer Reihe von betroffenen Kindern die Chance einer altersgemäßen Entwicklung und sollte jenen, bei denen sie wirksam ist, auch nicht vorenthalten werden (12). Aus Scheu vor Medikamenten haben viele Eltern ihre Hoffnungen auf strenge Diäten gesetzt, sind aber oft enttäuscht worden. Kinder, die ohnehin unter ihrer Störung leiden, fühlen sich dadurch noch mehr als Außenseiter. Ob eine strenge Diät zu Mangelzuständen führt, ist weiterhin strittig. Auf jeden Fall sollte sie von einem Arzt oder einer Diätassistentin überwacht sein. Eine spezielle Diät ohne Salizylate und synthetische Farb- und Konservierungsmittel ist die allergenarme Ernährung nach dem amerikanischen Allergologen Benjamin F. Feingold (13). Eine lange Zeit angepriesene, phosphatfreie Ernährung wird inzwischen auch in den Selbsthilfegruppen nicht mehr pauschal empfohlen. Bevorzugt wird das individuelle Austesten, ggf. muß auf phosphatreiche Lebensmittel verzichtet werden.

Es gibt nicht wenig Beweise dafür, daß sich HKS-Kinder durchaus sehr gut entwickeln können, wenn diese rechtzeitig gefördert und nicht ständig in einem Übermaß frustriert werden. Viele Merkmale der betroffenen Kinder wandeln sich im Erwachsenenalter in persönliche Stärken um (19). So können bei einer positiven Gesamtentwicklung beispielsweise Ablenkbarkeit und Sprunghaftigkeit zu Kreativität reifen, Überaktivität kann sich in hohe Produktivität und einer unermüdlichen Schaffenskraft niederschlagen. Impulsivität kann zu Lebendigkeit, Energie und Spontaneität werden (10).

Von dem Schauspieler Dustin Hoffman und von Albert Einstein wissen wir, daß sie hyperaktive Kinder gewesen sind. 1994 widmete das Magazin "Time" diesem Syndrom eine Titelstory und stellte als wahrscheinlich betroffene Erwachsene u.a. Benjamin Franklin, Winston Churchill und Bill Clinton heraus (16). Auch Wolfgang Amadeus Mozart ist ein exemplarisches Beispiel für das ADHS (3). Viele Hinweise auf dieses Syndrom finden sich auch in der Biographie über Alfred Nobel, dem Erfinder des Dynamits (18). Und von dem hyperaktiven Jungen Michel aus Lönneberga schreibt Astrid Lindgren, daß er später sogar Gemeindepräsident geworden sei ...
 
Dr. med. A. Wöge (21)
 
 

Quellenverzeichnis
 
(1)  Oetinger, Hamburg 19861 Faranoe S.V. et al.: Segregation analysis of attention deficit hyperactivity disorder. Psychiatr. Genet. 2/1992, Seite 257 - 275
(2)  Freisleder F.J., Trott G.E.: Das hyperkinetische Syndrom - Begriffserklärung, aktueller Stand, Therapiemöglichkeiten. Pediatrics 08/1996, Seite 3 - 18
(3)  Hallowell E.M., Ratey J.J.: Zwanghaft zerstreut. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1998 (Übersetzung der Originalausgabe "Driven to Distraction" Verlag Pantheon Books, New York 1994)
(4)  Hippokrates H.: Max und Moritz als Patienten - die Krankengeschichte in 7 Folgen. Eichborn Verlag, Frankfurt a.M. 1991
(5)  Hoede R., Bauer T.: Heinrich Hoffmann. Ein Leben zwischen Wahn und Witz. Stadtgesundheitsamt Frankfurt/Main (Hrsg.). Waldemar Kramer Verlag, Frankfurt a. M. 1994
(6)  Hoffmann H.: Der Struwwelpeter oder lustige Geschichten und drollige Bilder für Kinder von 3 bis 6 Jahren. 588. Auflage; Originalausgabe von Verlag Rütten & Löning, Frankfurt am Main. Bei Loewes Verlag Ferdinand Carl, Stuttgart 1934
(7)  Hoffmann H.: Lebenserinnerungen. Insel-Verlag, Frankfurt a.M. 1985
(8)  Lindgren A.: Als Klein-Ida auch mal Unfug machen wollte. Verlag Friedrich
(9)  Lindgren A.: Michel in der Suppenschüssel. Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 1990
(10)  Mrochen S., Kerkhoff W.: Motorik Bd. 17 Heft 3, Schorndorf 1994, Seite 87 - 92
(11)  Neuhaus C.: Persönliche Mitteilung; 4. Symposium von Juvemus (Vereinigung zur Förderung von Kindern mit Teilleistungsschwächen) Koblenz, Lahnstein 2000
(12)  Schulz E., Remschmidt H.: Hyperkinetisches Syndrom im Kindes- und Jugendalter. Med. Mo. Pharm., Heft 5/1991, 14. Jahrgang
(13)  Simpson B.: Einführung in den Umgang mit der Feingold-Diät bei hyperaktiven und allergischen Kindern. Eigenverlag, Solingen
(14)  Spallek R.: Persönliche Mitteilung, Bad Wurzach 1999
(15)  Still G.F.: The Goulstonian lectures on some abnormal psychical conditions in children. The Lancet Vol. I, Seite 1008-1012, 1077-1082, 1163-1168; London 1902
(16)  Time. Life in overdrive. Seite 42 - 50, 18. Juli 1994
(17)  Ullmann C.: Das unruhige Kind. Süddeutsche Zeitung Nr. 160, Seite 12
(18)  Vögtle F. (Hrsg. Kusenberg K. und B.): Nobel. Rowohlt Taschenbuch-Verlag, Reinbek bei Hamburg 1983
(19)  Weiss G., Hechtman L., Pelman T.: Hyperactive children as young adults: a controlled prospective 10 year follow-up of 75 hyperactive children. Archivs of general psychiatry 36/1979, Seite 67ff
(20)  Wilens T.E., Spencer T.J., Biederman J.: Pharmacotherapy of adult ADHD. In: Nadeau K.G. (Hrsg.) A comprehensive guide to attention deficit disorder in adults, Seite 168 - 190. Brunner/Mazel, New York 1995
(21)  Wöge A.: Ein Kahnbein fährt im Mondenschein ...; Medizinische Eselsbrücken, Merksprüche, Anekdoten - Alles, was das Medizinstudieren erleichtern kann. 2., erw. Auflage. Selbstverlag, Bornheim 2001
(22)  100 Jahre Comic-Strips. Band 1; Carlsen Verlag, Hamburg 1995
 

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